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Verfahrensrecht: Einspruchsrücknahme bei verbösernder Einspruchsentscheidung

Aus teleologischen, gesetzessystematischen und verfassungsrechtlichen Erwägungen ist es geboten, § 362 Abs. 1 i. V. m. § 122 Abs. 2 AO so auszulegen, dass eine Rücknahme des Einspruchs zur Vermeidung einer verbösernden Einspruchsentscheidung auch dann noch bis zum Ablauf des Bekanntgabetages wirksam ist, wenn der tatsächliche Zugang außerhalb der Drei-Tages-Frist des § 122 Abs. 2 AO erfolgt.

Sachverhalt

Der ledige Steuerpflichtige wurde im Streitjahr 2012 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Gegen den Steuerbescheid legte er fristgerecht Einspruch ein.

 

Aufgrund weiterer Ermittlungen im Einspruchsverfahren kam das Finanzamt zu dem Schluss, dass eine verbösernde Einspruchsentscheidung zu erfolgen habe. Es wies den Steuerpflichtigen schriftlich auf die Verböserung sowie die Möglichkeit der Einspruchsrücknahme hin.

 

Die angekündigte Einspruchsentscheidung wurde daraufhin mit Datum vom 17.10.2019 mit einfachem Brief zur Post gegeben und an den Steuerberater des Steuerpflichtigen versendet. Dort ging die Einspruchsentscheidung – unstreitig durch Eingangsstempel sowie Fristenkontrollblatt nachgewiesen – am 22.10.2019 ein. Der genaue Eingang der Einspruchsentscheidung (Stunde, Minute) konnte nicht festgestellt werden.

 

Der Steuerberater nahm den Einspruch am 22.10.2019 per Fax um 18:57 Uhr zurück.

 

Das Finanzamt ging jedoch davon aus, dass der tatsächliche Zugang der Einspruchsentscheidung vor dem Eingang der Rücknahme erfolgt sein müsse und lehnte eine Aufhebung der Einspruchsentscheidung ab. Zudem bat das beklagte Finanzamt den Berater darum, das Posteingangsbuch der Steuerkanzlei für Oktober 2019 einzureichen.

 

Der Steuerpflichtige vertrat dagegen die Auffassung, dass eine Rücknahme aus Gleichbehandlungsgründen auch bei Bekanntgabe außerhalb der Drei-Tages-Frist noch bis zum Ablauf des Zugangstages möglich sein müsse.

 

Entscheidung

Nach Auffassung des Finanzgerichts ist die Rücknahme des Einspruchs rechtzeitig vor Ablauf des Tages der Bekanntgabe erfolgt und damit wirksam. Die wirksame Einspruchsrücknahme führt zur Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Der Einspruch kann „bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch“ zurückgenommen werden. Die Rücknahme hat den Verlust des eingelegten Einspruchs zur Folge.

 

Für die Bekanntgabe von Einspruchsentscheidungen gilt § 122 AO unmittelbar. Diese Vorschrift regelt die Frage, wem und wie ein Verwaltungsakt bekannt zu geben und zu welchem Zeitpunkt die Bekanntgabe zu vermuten ist. Die Vorschrift regelt allein die formal-rechtlichen Fragen der Bekanntgabe von Verwaltungsakten. An den Zeitpunkt der wirksamen Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes sind einschneidende Rechtsfolgen geknüpft. § 122 AO regelt aber nicht die Wirkungen der Bekanntgabe.

 

Eine Einspruchsentscheidung, die – wie im Streitfall – mit der Post übermittelt wird, gilt gemäß §§ 122 Abs. 2 Nr. 1, 366 AO bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, es sei denn, der Bescheid ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen (sog. Bekanntgabefiktion).

 

Geht eine Einspruchsentscheidung tatsächlich früher als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post zu, ist diese frühere tatsächliche Bekanntgabe rechtlich unerheblich, weil die Bekanntgabe im Fall des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht nur vermutet, sondern mit Ablauf des dritten Tages fingiert wird. Denn mit der Zugangsfiktion in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wollte der Gesetzgeber – zugunsten wie zuungunsten des Adressaten – generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs so weit wie möglich ausschließen.

 

Praxistipp| Das Niedersächsische FG hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat und der Fortbildung des Rechts dient. Soweit ersichtlich ist die Frage der formalen Anforderungen an eine Einspruchsrücknahme, die am Tag des tatsächlichen Zugangs einer Einspruchsentscheidung außerhalb der Drei-Tages-Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO beim Finanzamt eingeht, noch nicht Gegenstand der Finanzrechtsprechung gewesen.

 

Fundstelle

FG Niedersachsen 14.6.21, 9 K 168/20, Rev. BFH IX R 16/21

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